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Bring Leben ins Portrait!

Portraitfotos kennen wir in den meisten Fällen als statische Angelegenheit, als Stillleben mit Mensch. Bedingt durch die langen Belichtungszeiten, die in den Anfangszeiten derFotografie/Daguerreotypie noch notwendig waren, mussten die Menschen bis zu 30 Minuten unbewegt ausharren, wenn man sie fotografierte. Etwas später ließ sich diese Zeit auf etwa 40 Sekunden reduzieren, aber auch hierbei war Stillhaltevermögen angesagt. Das erklärt, warum auf alten Fotografien niemand lächelt: Abgesehen davon, dass es als unschicklich galt, war das Lächeln über mehrere Minuten schlicht nicht zu halten. Wen die überaus spannende  Geschichte der Portraitfotografie interessiert, für den haben wir natürlich einen Film parat:

Die Geschichte der Portraitfotografie mit Florian Heine

Seit Beginn der Fotografie kennen wir also Portraits als bewegungsfreie Menschenbilder und beugen uns daher zumeist unbewusst der normativen Kraft des Faktischen: Wir kommen schlicht nicht auf den Gedanken, dem Portrait Bewegung einzuhauchen. Dabei gibt es einige Möglichkeiten, Menschen dynamisch zu  portraitieren.

Bewege den Menschen – oder die Kamera

Will man Menschen fotografieren, während sie sich bewegen, kann man entweder die Bewegung mit einer kurzen Belichtungszeit einfrieren, oder aber den Bewegungscharakter mit einer längeren Belichtungszeit festhalten. Beide Varianten werden einige Wiederholungen erfordern, ehe man das Bild in Händen hält, das man geplant hat.

Bei extrem kurzen Belichtungszeiten liegt die Herausforderung darin, genau den Moment zu erwischen, in welchem der Portraitierte optimal getroffen ist – hier hilft eine Serienaufnahme mit hoher Frequenz der Einzelbilder. Wer auf eine offene Blende nicht verzichten will, muss sich auf die Fokusnachführung seiner Kamera verlassen können.


Eine isolierte Bewegung der Hände oder Beine lässt sich mit einer etwas längeren Belichtungsdauer gut darstellen. Das Gesicht bleibt scharf, während man klar erkennen kann, dass die Extremitäten beschäftigt sind. Eine 1/125 Sekunde kann schon reichen, um Bewegung noch mit Unschärfe zu versehen. Man muss sich je nach Art der Bewegung ein wenig an die perfekte Belichtungsdauer herantasten.


Durch das Mitziehen der Kamera erreicht man, dass der während der Belichtungszeit der Kamera gegenüber statische Teil des Körpers Schärfe aufweist, während die Körperteile, die in diesem Moment in Bewegung sind, ebenso wie der Hintergrund in der Bewegungsunschärfe verschwimmen. Auch hier sind Übung, Wiederholung und das Austesten der perfekten Belichtungszeit, abhängig von der Geschwindigkeit des Motivs, gefragt. Zum Üben des Mitziehens an sich ist vielleicht ein Portraitshooting nicht der beste Startpunkt: Für den Anfang bietet sich der Rand einer belebten Straße an. Wer beim Üben auch schon eindrucksvolle Motive sucht, wählt vielleicht eine Pferderennbahn oder ein anderes Sportereignis. Markus Lutz gibt wertvolle Tipps zum Mitziehen bei seinen Action-Portraits zweier Mountainbiker:

Mountainbike fotografieren, Bewegung fotografieren

Bewege die Location

Einen vergleichbaren Effekt – scharfes Motiv vor verwischtem Hintergrund – bekommt man natürlich auch, wenn der Hintergrund sich bewegt. Bekannt sind Portraits von Menschen auf Verkehrsinseln, an denen der Straßenverkehr vorbeirauscht, aber auch der Mensch vor dem abfahrenden Zug. Hier gelingen einem oft Portraits, die Bewegung wie auch abstrakte Begriffe wie Einsamkeit, Stärke, Schnelllebigkeit etc. in sich vereinen können.



Eine großartige Location für bewegte Portraits sind übrigens Kinderspielplätze. Nein, nicht, wenn Kinder darauf spielen, sondern wenn sich darauf eines jener Karussells befindet, die man den Händen ankurbelt. Fotograf und Model setzen sich gegenüber, die Fahrt beginnt – mehr ist kaum nötig, außer vielleicht, auszuprobieren, an welcher Stelle der Hintergrund am attraktivsten ist. Das Beispielfoto ist dabei mit 1/25 Sekunde aufgenommen worden und zeigt sehr schön, dass auch der Fahrtwind für einen weiteren Schuss Dynamik in den Haaren sorgt. Wenn man sich nicht von Eltern beschimpfen lassen will, dass man erstens  das Spielgerät blockiert und zweitens bloß keine Kinder fotografieren solle, sucht man sich besser die Zeiten früh am Morgen oder am späteren Abend aus, womit man zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Ruhe und das Licht der Goldenen oder Blauen Stunde.

Bewege die Accessoires

Wind ist natürlich ein großartiger Bewegungslieferant, Marilyn Monroe kann davon berichten. Der Luftzug kann im Vorder- oder Hintergrund für Unschärfen in Bäumen oder Gräsern sorgen, kann Kleidung zur Geltung bringen oder dieses lässig-kalifornische-Mähnengefühl in die Haare zaubern. Bewegungsunschärfen von Gräsern im Vordergrund verleihen dem Bild zusätzlich Plastizität.

Eine mitunter farbenfrohe Alternative zum Wind sind Rauch und Pulver. Abgesehen davon, dass man auch hierbei etwas experimentieren und üben muss, sind vor allem die Sicherheitsaspekte zu beachten. Martin Emmerichs zeigt den Einsatz beim Studio-Shooting:

Fotografieren mit Mehl

Über Shootings mit Rauchfackeln kann man hier mehr erfahren.

Bewege Dich im Kopf

Noch haben wir bei allen Vorschlägen dafür gesorgt, dass das Gesicht der portraitierten Person scharf blieb. Aber auch das muss bei dynamischen Portraits nicht so bleiben. Das Beispielbild entstand, während ich mich auf einem Drehhocker einmal fast um die eigene Achse gedreht habe. Um noch etwas erkennen zu können, war ein längerer Aufenthalt bei Start und Ankunft notwendig, was bei einer Belichtungszeit von 2,5 Sekunden gut zu steuern war. Auch hier gilt: Es klappt nicht beim ersten Auslösen. Es waren einige Runden vonnöten, um den beiden „Fixpunkten“ auch unter bildgestalterischen Aspekten zu einer Punktlandung zu verhelfen und die optisch beste Drehgeschwindigkeit zu finden.


Deutlich anonymer wird das Portrait bei einer Langzeitbelichtung, ohne dass eine Position länger gehalten wird. Bei einer nichtlinearen Bewegung verschwimmt die Grenze zwischen einem Anfängerfehler und einem gewollten Effekt recht schnell.


Einen Boost an Bewegung bekommen Bilder, wenn man während der Belichtung den Zoomring dreht. Der Zoom-Effekt besteht darin, dass Bildelemente von der Mitte aus zu fliehen scheinen und zu den Rändern hin immer stärker verwischen. Man braucht eine lange Belichtungszeit und eine ruhige Hand, um gleichmäßig zu zoomen. Bleibt man beim Start- und/oder Endpunkt länger stehen, hat man ein entsprechend scharfes Ergebnis an diesen Stellen. Man kann auch in Schritten arbeiten oder das Objektiv während des Drehens verdeckt halten, um das Motiv in verschiedenen Größen auf einem Foto festzuhalten. Dirk Wächter zeigt in seinem Blitz-Tutorial nicht nur, wie man den Zoom-Effekt für großartige Blitz-Portraits ausnutzt, sondern verrät eine Menge weiterer Tipps:

Mit Blitz fotografieren, Blitzen in der Fotografie

Wer beim Zoomen zwischendurch das Objektiv abdeckt, hat letztlich eine Mehrfachbelichtung. Wer Bewegung andeuten will, sollte unbedingt mit Mehrfachbelichtungen experimentieren. Besonders effektvoll gelingt dies mit Stroboskopblitzen vor dunklem Hintergrund, wobei das Model in verschiedenen
Bewegungsphasen gezeigt wird.

Bewege die Pixel

Eine Mehrfachbelichtung ist natürlich auch bei der Nachbearbeitung von Fotos ein probates Mittel, um einem Portrait seine Statik zu entreißen. Dabei enden die Möglichkeiten von Photoshop und Co. natürlich nicht: Die Filter-, Verflüssigen-, Transformations- oder auch Compositingmöglichkeiten lassen allerlei Bewegung im Bereich der Bildpunkte zu. Ob Teile des Portraitierten wie am Ende von Michael Jacksons „Remember the Time“-Video aus diesem herauswirbeln, oder wie hier im Foto in einer simulierten Bewegungsunschärfe verschwinden, der Phantasie einerseits und den technischen Optionen andererseits sind keine Grenzen gesetzt.



Wie auch immer man an die „bewegten Portraits“ herangehen mag: Es erweitert die fotografischen Ausdrucksmöglichkeiten, wenn man das Thema Bewegung nicht nur den Motiven der Sport- und Streetfotografie überlässt, sondern auch in klassische Portraitshootings integriert – und sei es nur, um die Portraitierten aufzulockern.

 

21. Februar 2019 - 9:29

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